12 _ … und Geld macht doch glücklich

05.06.2020

Von Elisabeth Tester, Wirtschaftsautorin

Geld ist das Wichtigste. Natürlich nicht für uns, wir, die wir alle zur privilegiertesten Elite der Welt gehören. Uns machen eine glückliche Familie, Freunde, wertvolle Erfahrungen und ein Lebenszweck reich. Das trifft auch für mich zu, und zusätzlich habe ich das grosse Privileg, auf zwei Kontinenten und in zwei verschiedenen Kulturen leben zu dürfen. Ich muss zu meiner Beschämung gestehen, dass ich erst seit ich in China lebe, wirklich verstehe, wie bevorzugt ich als Schweizerin bin. Zuvor waren Armut, «für ein besseres Leben kämpfen» oder saubere Luft und Wasser doch recht abstrakte Themen, über die ich in meinen geliebten Bündner Bergen mit Familie und Freunden debattiert habe, ohne sie recht zu begreifen.

Wer aus aktuellem Anlass Wirtschaftswachstum hinterfragt und Entschleunigung proklamiert, ignoriert, dass weltweit mehr als drei Milliarden Menschen immer noch in tiefer bis tiefster Armut leben. Ökonomen meinen, die Covid-19-Pandemie mache die in den letzten Jahren erzielten Fortschritte in der Armutsbekämpfung wieder teilweise zunichte. Ohne Wirtschaftswachstum haben diese Menschen nicht die geringste Chance, je ein Einkommen zu erreichen, das ihnen die Deckung der einfachsten Lebensbedürfnisse ermöglicht. Geld macht halt doch glücklich – und Geld, respektive dass man damit Lebensmittel, simple Gesundheitsversorgung und Ausbildung kaufen kann, ist auch ein Menschenrecht.

China hat im Vergleich zu vielen anderen Schwellenländern weltweit schon einen sehr hohen Lebensstandard erreicht. Die breite und kaufkräftige Mittelschicht wird auch post-Covid-19 jedes Jahr kräftig zunehmen. In bestimmten Märkten verkörpert die chinesische Wirtschaft Kapitalismus in extremster Form, und alle streben nach immer steigendem Einkommen und Vermögen, genau wie im Westen. Aber etwas ist in China anders: Die Familie macht nicht nur glücklich wegen gedeihenden Kindern oder Zusammengehörigkeitsgefühl, sondern erfüllt auch eine ökonomische Funktion. In der aktuellen Krise, die auch in China zu Millionen von Arbeitslosen führte, springt die Familie ein – und zwar ohne Wenn und Aber. Das habe ich in der Schweiz nur sehr selten so erlebt, was wenig damit zu tun hat, dass wir über ein hochentwickeltes staatliches Sozialnetz verfügen.

Die Erfahrung, was das Konzept Familie in China bedeutet, ist enorm bereichernd für mich. Und sie lässt mich die Art und Weise, wie wir in der Schweiz Familie leben und Generationen separieren, hinterfragen.

 

Kurzbiografie

Elisabeth Tester ist Ökonomin und Wirtschaftsautorin. Sie bereiste China erstmals 1986, und ihr Interesse für das Land und seine Menschen führte dazu, dass sie seit neun Jahren in Schanghai und Zürich lebt.