09 _ Pathetisch darf sein

21.05.2020

Von Dr. Margrit Leuthold, ETH Zürich und Gründungspräsidentin der Stiftung Synapsis

Was macht mein Leben reich? Die Frage verführt, ins Pathetische abzugleiten. Eine Prise davon darf sein. Denn das Leben hat generell etwas Pathetisches an sich.

 

Das Vertraute und das Neue

Das Vertraute gibt mir Halt und Boden: Menschen, die mich ein Leben lang oder zumindest seit vielen Jahren begleiten. Der Reichtum gemeinsamer Erlebnisse und Erinnerungen. Die Jahreszeiten, die - obwohl durch den Klimawandel zunehmend gestört – in der immer gleichen Abfolge kommen und gehen. Die ersten Blumen im Frühling, die lauen Nächte im Sommer, das Herbstlaub, Schnee. Wenn plötzlich um den 1. Mai herum der Himmel wieder lebt, wenn die Mauersegler aus Afrika für die Brutzeit zurück sind, mit ihren Flugkünsten und mit ihren schrillen Pfiffen den Morgen-und Abendhimmel bereichern. Und die Melancholie, die mich um den 1. August herum beschleicht, wenn der Himmel genau so plötzlich wieder leer ist. 

Das Neue fasziniert mich – ein Jahr in Singapur leben zu dürfen – wie gerade jetzt, neue Menschen, Kulturen und Orte kennen lernen, eintauchen in eine neue fremde Welt. Die Neugierde zu behalten, Neues lernen, auch mit über sechzig noch mit Stepptanz beginnen, Pläne schmieden.  

 

Arbeit und Freizeit

Auch am Ende der Karriere immer noch mit tollen Menschen und an visionären Projekte arbeiten zu dürfen, das Privileg zu haben, dass ich mich nie wirklich mit einer Life-Work Balance auseinandersetzen musste, weil es nie eine scharfe Trennung gab. Zurückblicken auf eine vielfältige, spannende Karriere, in verschiedenen Ländern, mit Highlights und Tiefschlägen. Zunehmend aber spüren, dass nun eine andere Zeit kommt, wo Musse, Sein, Entschleunigung sein dürfen.

 

Kultur und Natur

Bücher lesen, ein Klavierkonzert von Rachmaninow zu hören, im Kino warten bis es dunkel wird, in gespannter Vorfreude auf den Film, der mich hoffentlich tief eintauchen lässt, sodass alles rundherum vergessen geht. Schöne Stoffe durch die Hände gleiten zu lassen, sich vorstellen, was man Wunderbares daraus nähen könnte. Oder – selten zwar – eine italienische Oper zu geniessen im Opernhaus Zürich, möglichst keinen Sitzplatz unter dem Kronleuchter, denn dem habe ich noch nie getraut. 

Im Wald spazieren oder joggen, das erste Grün im Frühling, der modernde Duft nach dem Regen. Im Engadin zu wandern, stundenlang, manchmal hoch hinauf, manchmal dem wilden Bach entlang. Auf einem Velo abwärts fahrend immer noch das selbe Prickeln wie als Kind zu fühlen. In einem schönen Hotel abzusteigen, mit Klavierbegleitung beim Essen im grossen Speisesaal.  

Das alles macht mein Leben reich, macht mich glücklich. 

War das jetzt pathetisch? Wohl zumindest ein wenig. Das darf es auch sein. 

 

*Über Margrit Leuthold

Margrit Leuthold ist stellvertretende Programmdirektorin des «Future Health Technologies» Programm am ETH Singapore Center in Singapur. Sie ist ehrenamtliche Gründungs-​Präsidentin der Stiftung Synapsis, welche die Erforschung der Alzheimer’schen Krankheit fördert. Zudem engagiert sie sich, geprägt durch ihren Aufenthalt in Indien, für eine gerechtere Welt.