11 _ Eine Fahrt durch Zu-reich

21.05.2020

Von Prof. Dr. Bernhard Hunziker*, Künstlerischer Leiter des Bach Collegium Zürich

Ein Eyecatcher, unübersehbar auf eine große freie Fläche einer Hausfassade gesprayt, hat für Jahre die Aufmerksamkeit Zugreisender kurz vor/nach der Ein-/Ausfahrt in den/aus dem HB Zürich mit dem Wortspiel „Zü-rich – Zu-reich“ auf sich gezogen. Das Haus ist längst abgerissen worden und die Aufschrift damit verschwunden; doch zu oft habe ich diese witzige, zum Nachdenken anregende Buchstabenumstellung gelesen, als dass sie auch aus meinem Gedächtnis gelöscht worden wäre. 

Die Fragestellung im Titel lässt mich nämlich spontan zuerst einmal nach der Bedeutung von reich suchen, suggeriert sie ja doch vielmehr als nur das Gegenteil von arm, mittellos. Diese  Termini sind sehr relativ und lassen sich mit einem rein materiellen Wertevergleich, worauf die Haus-Sprayerei wohl abzielte, nicht oder nur höchst einseitig und oberflächlich beantworten. Deshalb würde ich synonymisch dazu lieber von einem „erfüllten Dasein“ sprechen, in dem ich mich umfassend, mit all meinen “Talenten“, Facetten, unterschiedlichen Begabungen und Neigungen, in der mir zur Verfügung stehenden Lebenszeit einbringen darf. 

Ich hatte viel Glück in meinem Leben, das kann ich mit zunehmendem Alter bewusster er- und bekennen. Es war mir dankenswerterweise vergönnt - einer inneren Kompassnadel folgend - schlimme Unfälle verhindern und einen Weg gehen zu können (auch wenn er nicht immer meiner Planung und Vorstellung entsprochen haben mag), welcher mich letztlich die richtigen Entscheidungen suchen half und, rückblickend geurteilt, an das rechte Ziel geführt hat. Das Finden einer inneren Balance sozusagen, die mich wiederum glücklich und zufrieden oder eben reich macht sowie dankbar für das Er-reich-te, von dem ich versuche, ein Stück weit meinem Umfeld zurückzugeben, so z.B. etwa dem von mir gegründeten Bach Collegium Zürich oder über dieses Ensemble an die Zuhörerschaft (woraus jetzt das geflügelte Wort Brentanos abgeleitet werden könnte „Liebe ist das Einzige, das sich verdoppelt, wenn man es teilt“). Ich sehe dessen inzwischen 20-jährige Existenz auch als eine Art immateriellen Kontrapunkt zum örtlichen Wirtschaftsstandort und Welt-Finanzplatz; beide Seiten sind aufeinander angewiesen. 

Fazit: die vorgelegte Frage ist nicht neu, so haben große Denker seit Jahrhunderten immer wieder Antworten darauf gegeben. Und es gilt genauso für mich heute, aus der Dialektik (m)eines Lebens einen Konsens zu suchen, welcher mir erst ermöglicht, unabhängig und ungebunden meinen eigenen Weg zu beschreiten und im Idealfall auch Mitmenschen daran teilhaben zu lassen. 

 

*Über Bernhard Hunziker

Bernhard Hunziker ist Professor an der Universität für Musik und darstellend Kunst Wien sowie Gründer und Leiter des Bach Collegium Zürich.