18 _ Dem Leben trotz allem einen Sinn geben

25.06.2020

Von Jannik Belser, Journalist beim «Schweizer Monat»

Was macht mein Leben reich? Bei dieser Fragestellung musste ich unweigerlich an den österreichischen Psychiater Viktor Emil Frankl denken. Frankls Geschichte zeigt auf, dass das Schicksal einem zwar alles rauben – man aber dem Leben trotz allem einen Sinn geben kann. Im Wien der frühen 30er-Jahre genoss Frankl in Forschung und Beruf ein hohes Ansehen: Bereits im Alter von 28 Jahren leitete der Facharzt eine eigene Abteilung im Psychiatrischen Krankenhaus der Stadt. Das Jahr 1938 sollte alles verändern. Es ist der Beginn einer persönlichen Leidensgeschichte.

 

Denn Viktor Frankl ist Jude. Mit dem Anschluss Österreichs ans nationalsozialistische Deutsche Reich wird er über Nacht zum Staatsfeind. Zahlreiche seiner jüdischen Bekannten und Freunden flüchten ins Ausland. Auch Viktor Frankl erhält die Chance: Die USA bieten ihm eine Ausreise-Visum an. Frankl zögert und lässt das Visum schlussendlich ungenutzt auslaufen; Er möchte seine alten Eltern nicht alleine in Wien zurücklassen. Im September 1942 werden die Frankls gemeinsam ins Ghetto Theresienstadt im heutigen Tschechien deportiert. Nach einem halben Jahr stirbt Viktor Frankls Vater aus Erschöpfung. Für die restliche Familie folgt bald die nächste Stufe der nationalsozialistischen Grausamkeit: 1944 landen sie im Vernichtungslager Auschwitz. Die mittlerweile 65-jährige Mutter von Viktor Frankl wird sofort in der Gaskammer ermordet. Frankls Frau wird ins Konzentrationslager Bergen-Belsen wegtransportiert, auch sie stirbt. Viktor Frankl landet im Arbeitslager Kaufering, einem Nebenlager von Dachau. An diesem Ort erlebt er eine Realität, die schlimmer als jeder Albtraum ist. Familie, Eigentum, Freiheit und Würde: Viktor Frankl hat alles verloren.

 

Es hätte gute Gründe gegeben, die Lust am Leben zu versiegen. Dankbar den Tod als Erlösung zu akzeptieren. Doch Frankl verliert nie die Hoffnung. Eines Tages möchte er in einem Vorlesungssaal stehen und seine Studenten über die Psychologie hinter den Konzentrationslagern aufklären. Viktor Frankl will leben. Als heimlicher Lagerseelsorger motiviert er Mitinsassen zum Durchhalten. Am 27. April 1945 wird er von US-Truppen aus dem Lager befreit. Er macht seinen Traum zur Wirklichkeit und wird in Wien Professor für Neurologie und Psychiatrie, später sogar Gastprofessor an der Harvard Universität.

 

Viktor Frankl hat die hässlichste Fratze des Menschseins am eigenen Leib miterlebt. Der Holocaust nahm ihm alles, was er hatte. Viktor Frankl wurde gequält, geknechtet, geschlagen und gedemütigt. Doch er wurde nicht gebrochen. Er stellte sich seinem Schicksal und gab seinem Leben und Leiden trotz allem einen Sinn. Er war der reichste Mensch der Welt.

 

Zum Autor:

Jannik Belser ist 21 Jahre alt und Journalist beim Schweizer Monat, einem Debatten- und Autorenmagazin mit Gründungsjahr 1921. Er studiert Volkswirtschaftslehre und Geschichte an der Universität Zürich.