20 _ Was mein Leben reich macht … zwei Alltagserlebnisse

17.12.2020

Von Esther-Mirjam de Boer*

Reichtum ist irgendwie ein belastetes Wort. Er ist erstrebenswert, man spricht nicht drüber und der Weg dahin ist gesäumt von Unterstellungen schlechter Eigenschaften, um ihn erreichen zu können. Reichtum verhindert den Zugang zum Himmel, behauptet die Religion. Mit dieser Vorstellung bin ich aufgewachsen: «Denn eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt.» Unsere Kultur programmiert uns geradezu darauf, nicht reich zu werden. Doch warum eigentlich? Und was ist Reichtum überhaupt?

Und so habe ich die Frage, was mein Leben reich macht, einige Wochen mit mir rumgetragen und es wollte sich partout keine Inspiration für diesen Text einstellen. Ich war blockiert. Die letzten Monate waren wir auf uns selbst zurückgeworfen. Das meiste, was man mit Geld-Reichtum machen kann, war eingeschränkt oder mit zusätzlichen Risiken und Unsicherheiten behaftet. Mein Bewegungsradius ist sehr klein geworden und meine Ausgaben auch.

Gleichzeitig habe ich diese Zeit als eine reichhaltige Phase wahrgenommen mit einer Fülle von Erlebnissen und Selbsterfahrungen. Dabei hat es mir an nichts gefehlt, ausser an Umarmungen. In einem der vielen Zoom-Treffen mit Freunden, abends mit Wein und Essen, jeder bei sich zu Hause vor dem Bildschirm, fragten wir uns, welche Einsichten wir gewonnen haben. Und ich sagte spontan: «mir ist klar geworden, wie sehr ich Menschen liebe». Danach war es für einen langen Moment ganz still.

Erst später bin ich mir der Bedeutung dieses Satzes richtig bewusst geworden. Dann nämlich, als ich angefangen habe mich zu fragen: «wie lebst Du das eigentlich aus?». Ich habe mich gefragt, wie sich diese Erkenntnis in meinem Leben äussert und für mein Umfeld spürbar ist.

Seit etwa Mitte März trage ich einen Mund-/Nasenschutz beim Einkaufen. Mir ist bewusst, wie exponiert Verkaufsmitarbeitende sind. Der Metzger sprach mich darauf an. Er hatte Angst und war wütend, dass sie nicht besser geschützt werden. Ich trage die Maske zum Schutz von und aus Respekt vor jenen, die tagein tagaus mit vielen Menschen in Kontakt sind und sich als systemrelevante Arbeitskräfte einem erhöhten Ansteckungsrisiko aussetzen. Das ist eine Form von Liebe für andere. Und da man ein Lächeln unter der Maske kaum mehr sieht, habe ich angefangen, mit dem Personal im Supermarkt mehr zu sprechen, als den üblichen Austausch von Höflichkeitsfloskeln: bitte/danke und schönes Wochenende. Vor Corona war für mich Einkaufen eine Transaktion, während dem Lockdown habe ich angefangen, den Menschen im Verkauf meine Aufmerksamkeit zu schenken.

Und dann ist etwas sehr Schönes passiert. Die Menschen, die in meiner Migros arbeiten, kennen mich inzwischen – die Aufmerksamkeit kommt zurück. Der Metzger sprach mich kürzlich an und fragte, wie die Ferien waren – er habe mich etwa drei Wochen nicht mehr gesehen. Ich war bass erstaunt, dass ihm das so zutreffend aufgefallen war. Und wohlgemerkt: ich kaufe lange nicht immer Fleisch ein, aber er grüsst mich auch im Vorübergehen sehr freundlich und ich ihn. Ich fühle mich von ihm sehr aufmerksam bedient. Die Plätzli werden vor dem Wägen noch entfettet und speziell dünn geschnitten. Und ich weiss nicht, ob das vor Corona auch schon so war.

Auch die Frauen an der Kasse und die Menschen, die Regale auffüllen, haben ihr Verhalten mir gegenüber verändert. Ich glaube, gerade jene die im Laden arbeiten schätzen es, wenn sie den Kunden für eine Auskunft wieder kurz nahe kommen können, weil beide Maske tragen. Ich denke, es reduziert die Verunsicherung. Vielleicht ist es auch die bewusstere Aufmerksamkeit, die ich ihnen schenke. Möglicherweise ist es beides in Kombination. Jedenfalls bereichern diese kleinen Kontakte und Beziehungsfragmente mein alltägliches Einkaufserlebnis und bilden eine neue Facette meines Reichtums im Leben.

Mit der freundlichen Aufmerksamkeit und der Liebe ist es ein bisschen wie mit dem Geld. Wenn man es einfach für sich behält und nichts damit macht, wirft es keine Zinsen und Dividenden ab. Man kann es ganz sicher investieren, dann ist der Rücklauf gering. Wenn man mehr wagt, kann auch mehr zurückkommen, nur ist es weniger sicher.

Anders als beim Geld ist unser Vermögen an liebevoller Aufmerksamkeit eine Ressource, eine Fähigkeit die allen gleichermassen zur Verfügung steht. Wir sind selbst die Produzenten. Wir können sie zurückgeben, wenn wir sie erhalten und wir können sie investieren, um eine Situation zu beeinflussen.

Dazu fällt mir eine weitere Alltagsanekdote ein.

Vor dem Berufseinstieg vor über 25 Jahren habe ich mein Studium mit Service in Restaurants verdient. Eines Tages war eine grosse Gruppe angemeldet und der Chef fragte, wer Lust habe auf dieses Bankett, denn die Gäste seien extrem anspruchsvoll und steif. Ich meldete mich freiwillig, denn ich mag die Herausforderung, die harte Schale von Menschen zu knacken und gute Erlebnisse zu erzeugen. Das ist für mich ein Spiel. Im Bankett-Service ist die Gewinnsumme für Aufmerksamkeit in der Regel ein sehr grosszügiges Trinkgeld. Das Spiel ist nicht ganz selbstlos. Die Gastgeber kamen und korrigierten den ganzen von mir perfekt gedeckten Tisch. Ich half ihnen dabei. Sie tauschten Stühle aus, deren Kanten ihnen für edle Damenstrümpfe zu rauh erschienen. Ich trug sie hin und her. Ich tat alles was sie wollten mit vollendeter Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft. Die Gäste kamen, ich habe das Essen serviert und es blieb steif. Beim Hauptgang bot mir der Vater des Geburtstagskindes durch eine Bemerkung die Gelegenheit, ihm etwas Lustiges ins Ohr zu flüstern, worauf er in schallendes Gelächter ausbrach. Das Eis war gebrochen, der Saal entspannte sich und das Fest wurde schön. Wenn mir Gäste mit beiden Händen beim Abschied zum Dank die Hand schütteln und mir dabei lächelnd in die Augen sehen: Das sind der Moment, in dem ich meine Dividende einstreiche, das ist ein Augenblick des Alltags, der mein Leben reich macht. Ach, und die 10 Franken Trinkgeld bei vier Gängen für 30 Leute habe ich tapfer weggesteckt. Mit den Konsequenzen ihres Geizes müssen sie nämlich selbst alt werden.

 

*Über die Gastautorin

Esther-Mirjam de Boer ist eine Schweizer Unternehmerin, CEO und Verwaltungsrätin. Als ehemalige Präsidentin des Verbands Frauenunternehmen engagiert sie sich ehrenamtlich für das weibliche Unternehmertum. De Boer hat an der ETH Zürich Architektur studiert, ist verheiratet und Mutter einer Tochter.