China: Alle profitierten vom Wachstum – einige aber deutlich mehr

17.09.2021

Seit 1990 hat die Einkommensungleichheit in China so stark zugenommen wie kaum in einem zweiten Land. Xi Jinping hat dieser Ungleichheit nun den Kampf angesagt. Tatsächlich geht die Regierung immer entschiedener gegen Reiche und private Grosskonzerne vor. Hinter den Massnahmen steckt allerdings mehr als nur die Umverteilung von oben nach unten. Ein Gastbeitrag von Joel Gysel (WPuls)

Ende August hielt der chinesische Präsident Xi Jinping eine vielbeachtete Rede, in welcher er das Ziel des «gemeinsamen Wohlstandes»  verkündete. Er kritisierte, dass je länger je mehr nur noch einzelne vom Wirtschaftswachstum profitierten. Folgedessen soll übermässigem Einkommen einen Riegel vorgeschoben, die Mittelklasse gestärkt und gesetzeswidrige Bereicherungen jeglicher Art bekämpft werden.


Die Rede fügt sich ein in eine Reihe von neuen Gesetzen und Direktiven, welche in den vergangenen Monaten erlassen wurden, um die Privatwirtschaft stärker in die soziale Verantwortung zu nehmen. Darunter fällt z.B. das kürzlich erlassene «Gewinnverbot» für Anbieter von Nachhilfeunterricht. Auffällig sind auch die zahlreichen Spendenankündigungen von Privatpersonen und Firmen. Nachdem die Behörden den Börsengang von Alibabas Ant Group verhinderten, sagte Jack Ma in seiner ersten öffentlichen Rede danach, es sei die Verantwortung von Unternehmern, sich für die Entwicklung ländlicher Gebiete und für den «gemeinsamen Wohlstand» einzusetzen. Konkurrent Tencent wiederum versprach eine Spende von rund 14 Milliarden Franken für Programme im Rahmen des «gemeinsamen Wohlstandes». Meituan-Gründer Wang Xi spendete eigene Firmen-Aktien im Umfang von mehr als 2 Milliarden Franken. Wir nehmen die jüngsten Entwicklungen zum Anlass, einen Blick auf die Ungleichheit in China zu werfen.

Von sehr gleich zu sehr ungleich

Noch unter Mao Zedung war China weltweit unter den Ländern mit der niedrigsten Einkommensungleichheit. Sie entsprach in etwa dem Niveau der Nordischen Länder mit der tiefsten Einkommensungleichheit weltweit. Gleichzeitig waren aber beinahe 90% der Bevölkerung von extremer Armut betroffen. Mit den Reformen von Deng Xiaoping ab Ende der 1970er begann die extreme Armut rapide abzunehmen. Innert der folgenden 20 Jahre schaffte es China, 850 Millionen Menschen aus der extremen Armut herauszuholen – etwas, das zuvor noch keinem Land in so kurzer Zeit gelang. Gleichzeitig begann die Ungleichheit jedoch rapide anzusteigen. Gemessen am Gini-Index ist die Ungleichheit in China inzwischen grösser als in allen entwickelten Volkswirtschaften und übertrifft auch die Ungleichheit von Brasilien, das als sehr ungleich gilt. Die hohe Ungleichheit beisst sich mit dem sozialistischen Anspruch auf Gleichheit und unterminiert den impliziten Gesellschaftsvertrag. Immerhin hat die Ungleichheit gemäss offiziellen Zahlen seit 2008 nicht mehr weiter zugenommen.

Teilweise lässt sich die hohe Ungleichheit mit China-spezifischen Faktoren, z.B. der mit der Grösse einhergehenden Diversivität, erklären. 2019 war
das durchschnittliche Einkommen in den drei reichsten Provinzen viermal so hoch wie in den drei ärmsten Provinzen. In den USA beträgt dieses Verhältnis weniger als 2 zu 1. Zugleich ist der Graben zwischen Stadt und Land in China ausserordentlich gross. Das Medianeinkommen eines chinesischen Stadtbewohners entspricht in etwa dem Medianeinkommen einer Person aus Ungarn, während das Wohlstandsniveau einer Person auf dem Land dem einer Person aus Ägypten entspricht. Das Haushaltsregistrierungssystem Hukou bindet die Bürger jedoch an ihren Herkunftsort, was die Mobilität zwischen Stadt und Land stark einschränkt und damit die Ungleichheit mit Aufrecht erhält.

Wohlstand für den Mittelstand

Was bedeutet die hohe Ungleichheit mit Blick auf die zukünftige Regulierung? Bisherige Massnahmen zielten einseitig darauf ab, die extreme Armut zu bekämpfen. Der dreizehnte Fünfjahresplan (2016 – 2020) beinhaltete das Ziel, die extreme Armut bis 2020 zu beenden. Im vergangenen Jahr erklärte die chinesische Regierung dieses Ziel für erreicht.

Die Rede von Xi Jinping und die jüngsten Regulierungen deuten darauf hin, dass China nun auf materielle Fortschritte für alle Bevölkerungsschichten abzielt. Dies mit gutem Grund: Seit Beginn der Corona-Pandemie sind die Löhne in China nur noch halb so schnell gewachsen wie vor der Krise. Da das soziale Sicherungssystem bisher erst wenig ausgebaut ist, brachten und bringen die Lockdowns zahlreiche Kleinbetriebe in finanzielle Schwierigkeiten. Die Regierung ist bestrebt, die sozialen Spannungen nicht weiter ansteigen zu lassen und ist dazu zu weitreichenden Eingriffen bereit.

Die aktuelle Regulierung dürfte aber nicht nur soziale Ziele im Visier haben, zumal sich die Ungleichheit gemäss offiziellen Zahlen (National Bureau of Statistics NBS) in den letzten Jahren nicht weiter verschärft hat. Der Kampf dient Xi auch dabei, die Tech-Giganten und Superreichen der Kommunistischen Partei gefügig zu machen und sich selbst als obersten Mann des Volkes zu präsentieren. Dies gelang Xi bereits ab 2012 mit seiner Antikorruptions-Kampagne. Und so sind die Massnahmen der letzten Woche auch Ausdruck davon, dass sich die wirtschaftlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen in einem Einparteiensystem sehr schnell ändern können, wenn es politisch opportun erscheint.

 

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